Ich trete ein durch ein großes Tor in eine hohe, helle, weite Halle. Im Inneren stehen um den Eingangsbereich auf dem gekachelten Boden unzählige Tröge und Töpfe mit Pflanzen. Etwas schüchtern bewege ich mich durch den kalten, großen Raum auf eine kleine, geschwungene Metalltreppe mit Gusseisengeländer zu. Sie führt auf eine Zwischenebene, welche offen in den hintersten Teil der Halle eingezogen wurde. Mit jedem Schritt metallisch durch die Halle schallend steige ich die Treppe hinauf. Oben angekommen entdecke ich an einer der Seitenwände eine kleine Türe und öffne sie. Ich trete ein in einen vergleichsweise kleineren Raum, der von den Dimensionen her aber immer noch als Turnsaal für eine Volksschule durchgehen könnte. Doch Turnsaal ist das keiner, auch kein Tanzsaal, obwohl ein großer, den Raum reflektierender Spiegel an der Stirnwand das vermuten lassen könnte. Als ich an ihm vorbeigehe, beginnt er zu zittern und vibrieren. Auch sonst ist der Saal voll mit geheimnisvollen Artefakten. Aus einer Wand wachsen der Schwerkraft scheinbar nicht unterworfene, zarte Konstruktionen aus leuchtenden Stäben. Metallisch schimmernde, in sich verknotete Riesenschlangen liegen am Boden,
ihre in den eigenen Schwanz verbissenen Babies räkeln sich auf einem langen Tisch. An einer anderen Wand hängen Querschnitte von Gehirnen, und an der nächsten ein Bild einer Vulkanlandschaft, die sich im Vorbeigehen zu einer nackten Frau mit gespreizten Beinen wandelt. Daneben Bilder mit unzuordenbaren Sequenzierungen und wieder daneben große Tableaus mit quecksilbern glänzender Oberfläche, in die nicht entzifferbare Zeichen geprägt sind. Zwei lange Tische säumen die Fensterwand, sie sind voll von Blättern mit (Bau-)Skizzen und Notizen, verschiedensten Zangen, Lötkolben, Messgeräten und anderen Werkzeugen sowie einer riesigen Lupe. In der Mitte des Saales steht ein großes, abweisendes Gebilde. Ein unzugänglicher, kleiner Zentralbau, bestehend aus vier im Quadrat aneinander geschraubten, zu Konchen gebogenen Metallplatten. Kühl, abweisend, technoid, zeigen sie mir sozusagen die kalte Schulter und machen neugierig, was sich wohl im Inneren dieses geheimnisvollen, unzugänglichen Raumes befindet…
Nein, ich befinde mich nicht in der Wunderkammer im Schloss eines Renaissancefürsten. Auch nicht im Versuchslabor eines auf die schiefe Bahn geratenen Wissenschaftlers oder im Lehrmittelraum von Schloss Hogwarts. Ich bin in Tomas Hokes Werkstatt in Berndorf.
Tomas Hoke ist ein homo ludens und macht die Betrachter/Benützer seiner Werke zu ebensolchen.
Denn Hokes Objekte stacheln Neugier und Forschergeist an und laden zu ihrer spielerischen Entdeckung ein. Der Betrachter gerät oft zum interaktiven Bestandteil des Werkes bzw. bringt er dieses durch seine Interaktion erst zu seiner eigentlichen Erfüllung.
Tomas Hokes Haupt-Werkstoff ist Metall: Platten, Gewebe, Folien, Stangen, Röhren oder Drähte werden geschweißt, geschnitten, gebogen, gebürstet, verknotet, poliert, verspiegelt, geschliffen, mit Sensoren versehen, verbrannt, bedruckt, gelötet und/oder beleuchtet.
Seine Objekte variieren vom „handlichen“ Schmuckstück bis zum 10 Meter großen Monument, von zarten Konstellationen über prekäre Installationen bis zu massiven Konstruktionen.
Die formale Vielfalt seines Œuvres reflektiert auch dessen inhaltliche Breite. Der Reichtum an Erscheinungsformen und Inhalten speist sich aus Hokes steter Neugier, den daraus resultierenden vielfältigen Interessensgebieten des Künstlers und seinem kreativen Drang, das Erfahrene/Entdeckte in immer neuen Formen umzusetzen. So kann es durchaus vorkommen, dass intellektuelle, philosophische, psychologische, neurobiologische und historische Themen in den Werken auffindbar sind bzw. mitschwingen, ohne jedoch, dass dies das erklärte Ziel des Künstlers gewesen wäre. Bei aller Vielfalt gibt es jedoch etwas, das Hokes Objekte gemeinsam haben: Das oben schon beschriebene spielerische Moment und die Einladung an den Betrachter zur Interaktion.
Nehmen wir als Beispiel den eingangs kurz erwähnten, vibrierenden Spiegel namens „Bizarre Mirror“: Zuerst fällt der 260 x 142 cm große, an der Wand hängende Spiegel nicht dezidiert als Kunstwerk auf, sondern lädt – ganz im Sinne eines Spiegels – ein, sich selbst anzuschauen. Doch als ich an ihn herantrete, beginnt er zu schwingen, zu vibrieren. Je näher ich ihm komme, desto stärker und intensiver wird die Vibration, desto lauter und bedrohlicher die durch die Schwingung erzeugten, wummernden Geräusche und desto verschwommener das eigene, zitternde Spiegelbild. Als ich dann direkt davorstehe, mit dem Ziel, mich selbst möglichst genau anzuschauen, starre ich ängstlich in eine verzerrte Fratze. Ich interpretiere: Je näher ich dem Kern der Selbsterkenntnis komme, umso bedrohlicher/unheimlicher/schwieriger wird es, weiter hinzuschauen. Vielleicht ist es sicherer, wenn ich mich abwende – mir selbst besser doch nicht ZU nahe trete, bevor womöglich mein eigenes Bild von mir vor mir zerbricht? Mich dem Bizarre Mirror entgegenzustellen, ist eine körperintensive, unheimliche und zugleich aufregende Erfahrung. Die eigenen Umrisse werden unscharf, Details verwackeln, Form verschwimmt. Ich sehe aus, wie einem Horrorfilm entnommen, kurz bevor ich mich in ein Monster transformiere – bedrohliche wummernde Musikuntermalung inklusive. Zugleich fühlt es sich an, wie eine kindliche Mutprobe, der ich mich mit Eifer und Neugier dann doch immer wieder stellen möchte – irgendwie macht es halt dann doch zu viel Spaß, um es nicht immer wieder auszuprobieren ...
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Clara Kaufmann:
Bericht 2018: In
KosmosE, Monografie Tomas Hoke, Ritterverlag 2029, S. 12-13
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