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Clara Kaufmann: Europa 2018

In KosmosE 2019

In seiner Arbeit „Europa“ nimmt Tomas Hoke Bezug auf den Entstehungsmythos unseres Kontinents: Eine phönizische Prinzessin namens Europa hat es dem Göttergott Zeus angetan. Um das junge Mädchen nicht zu verschrecken und auch, um seine (zu Recht) eifersüchtige Frau Hera zu täuschen, verwandelt sich Zeus, um Europa zu verführen, in einen wunderschönen, schneeweißen Stier mit blauen Augen und glitzernden Hörnern. In dieser Form nähert er sich Europa, als sie gerade am Strand von Sidon spielt. Sie ist fasziniert von dem schönen Tier und als sie auf seinen Rücken klettert, nützt Zeus die Chance und entführt sie. Er schwimmt mit ihr durch das Meer bis nach Kreta, eine Insel, die Teil eines bisher unbekannten Kontinents ist, den Zeus daraufhin nach der schönen Europa benennt. Auf die Entführung folgt die Verführung, aus der im Endeffekt insgesamt drei Söhne entstehen – die ersten Europäer.

Der Name sowie die Bevölkerung unseres Kontinents gehen also – laut Mythos – auf eine phönizische Prinzessin zurück. Wo war Phönizien eigentlich? „Phönizien ist die Bezeichnung eines schmalen Landstreifens an der östlichen Mittelmeerküste auf dem Gebiet der heutigen Staaten Israel, Libanon und Syrien.“ Was für eine Ironie der Geschichte. Einst entführte der höchste aller Götter ein arabisches Mädchen von einem libanesischen Strand nach Griechenland (Zeus und Europa waren wohl die ersten, die über die Mittelmeerroute kamen…) und benannte einen ganzen Kontinent nach ihr. Auf ihrer (wenn auch nicht ganz freiwilligen) Überfahrt musste sie keine Angst vor dem Ertrinken haben – auf dem unsinkbaren Rücken des Göttervaters und noch dazu als Enkelin des Poseidon. Die heutigen, weltlichen Transportmittel der Landsleute Europas, die aus Krieg, Not und Verzweiflung über das Mittelmeer nach Griechenland flüchten, sind alles andere als sicher und viele erreichen das europäische Festland nie. Allein für ihren Versuch, nach Europa zu gelangen, werden sie schon kriminalisiert, ebenso wie jene, die sich für ihre Rettung vor dem Ertrinken einsetzen. Und ist die Überfahrt geschafft, ist es noch lange nicht zu Ende mit den Strapazen. Die Nachfahren der Phönizier, die Generationen später versuchen, ihr Leben in Europa zu retten, sind hier vielerorts nicht willkommen, gelten als zu fremd und anders, werden in ihrer Gesamtheit als „Problem“, „Krise“ oder „Welle“ tituliert, die die Staatengemeinschaft Europa ins Wanken bringt.
Der eifersüchtige Zeus hatte seiner Geliebten Europa drei Geschenke gemacht: Einen Speer, der immer trifft, einen äußerst schnellen und bissigen Hund und einen Bronzemann, der ständig die Stadtmauer umkreiste, um Invasoren abzuhalten. Vielleicht wirken Zeus‘ Geschenke bis heute nach in der „Festung Europa“.

Mit ihren Hörnern, ihren starken, klaren Formen und der hell glänzenden Oberfläche ist Hokes Europa-Skulptur eine Reverenz an den europäischen Entstehungsmythos. Doch der Künstler will nicht nur den Kontinent als mythisches Konstrukt, loses Staatengefüge oder geographische Einheit thematisieren, sondern auch die (vergleichsweise erst kürzlich) daraus erwachsene Europäische Union als gesamtpolitisches Gefüge. Die Einheit von Hörnern und Block, die wie aus einem Guss sind, und die Stärke, die das Material ausstrahlt, können als sinnbildlich für den europäischen Zusammenhalt gelesen werden. Außerdem wirft Hoke einen optimistischen Blick in die Zukunft der EU: Mehr als je 40 Lichtpunkte an den Seiten des Objekts stellen als imaginäre Landkarte die Europäischen Städte dar und symbolisieren ein wachsendes, dichtes Netzwerk einer florierenden Gemeinschaft. 2002, als das Kunstwerk entstand, waren 15 Staaten Mitglied der EU, heute zählt die Union 28 Mitgliedsstaaten. Insofern bestätigte das Wachstum der EU bis vor Kurzem Hokes positives Sinnbild, blieb jedoch noch weit entfernt davon, wirklich über 40 Mitgliedsstaaten zu zählen. Zusätzlich knirscht es seit Kurzem gewaltig im Staatengefüge, zumindest einer der Lichtpunkte wird bald erlöschen, bei manchen anderen muss man zumindest einen Wackelkontakt befürchten. Es bleibt zu hoffen, dass Hokes Skulptur Recht behalten wird.

 

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Clara Kaufmann: Europa 2018: In KosmosE, Monografie Tomas Hoke, Ritterverlag 2019, S. 312

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Europa und der Stier 10.1.1987, 50 x 65,5 cm; 12.1.1987, 32 x 64 cm Ölkreide auf Bütten
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