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  >> Manfred Moser : in "Daseinssperre - Leere Masse"
    Jahr:1994
Wvznr: T104
Manfred Moser : Abwesenheit von
Manfred Moser :
Abwesenheit von

In irgend einem abgelegenen Winkel der geistigen Welt, in der Eingangshalle der Kärntner Landesgalerie, stand einmal eine Psyche, so ein dreiteiliges Spiegelding zum Auf- und Zuklappen. Aber anders als das wohlbekannte, in manch urzeitlichem Schlafzimmer heimische Objekt, wies diese Psyche keinen echten Spiegel in der Mitte auf, die Mitte schien überhaupt zu fehlen. An ihrer Stelle klaffte ein Spalt, der dazu diente, die benachbarten Teile, zwei symmetrisch komponierte Edelstahlblöcke, 186 Zentimeter hoch, 33 Zentimeter tief, halbwegs auf Distanz zu halten und innerhalb einer Weite von 213 Zentimetern zu einem schönen Ganzen zusammenzuschließen. Die Einheit der Psyche rührte folglich von einem Spalt her, der den fehlenden Mittelteil ersetzte.
Was ist das für ein Spalt?
Aufs Ganze gerechnet, leichter als Luft, für sich genommen, schwerer als Edelstahl.
Bewußtseinssperre?
Daseinssperre.
Nichts im Schädel?
Leere Masse.
Ach so.
Im Unterschied zur dahinschmelzenden, immer versöhnlichen Fuge, im Unterschied auch zum Ordnung gebietenden Zwischenraum (Trennschutz) stellte der Spalt die Erkenntnis auf eine harte Probe. Warum machst du das?
Das macht die leere Masse.
Wo?
Klopf mal!
Hohl.
Eine Paradoxie, die sich weder mit Wille und Bewußtsein noch durch ein Geschmacksurteil aus der Welt schaffen ließ, sollte die Menschheit künftig in Atem halten.
Natur ist meistens hohl.
Stimmt.
Wäre es eine Fuge gewesen, hätten die Menschen, die eben ins Museum eilten, um Kunstwerke zu schauen, die leere Masse nicht bemerken müssen. Sie hätten ihr, ohne vorher dagegen geklopft oder sonst Zweifel geäußert zu haben, kein Gewicht beigelegt und sich stattdessen auf einen Feldherrnhügel zurückgezogen, um von oben herab ihre Kritik zu formulieren: Wie das fad ist, die reine Flickschusterei! Oder wie harmonisch, aus einem Guß!
Tut Kritik weh?
Nein, ja, nein, sicher.
Und die Konkurrenz?
Wenn sie niemandem weh tut, ja.
Wäre es ein ordinärer Zwischenraum gewesen, hätte sich die Sachlage kaum verbessert. Die Menschen wären zielstrebig und wiederum unter Mißachtung der leeren Masse, ohne anzuklopfen, drauflos gestürmt, um das Museum bis ins hinterste Eck zu besetzen. Die Edelstahlblöcke (zerstrittene Nachbarn, Säulenheilige, Zwillinge u. dgl.) hätten sie sehr oberflächlich als Wächter am Wegesrand (Atlanten, Tiger, Panther u. dgl.) identifiziert und freudig mit dem Ruf begrüßt: Servus, Ihr Aufseher links und rechts! Zeigt uns die Mitte, die Geschichte, den Weg zum Ruhm, die neueste Entwicklung, die Modernität, wir reiten durch!
Zum Glück hat das nicht gestimmt.
Es wäre auch zu barock, zu klassisch gewesen.
Zu symmetrisch.
Wie du meinst.
Für eine Fuge war der Spalt zu dick, für einen Zwischenraum zu dünn. Angesichts der leeren Masse, die ihnen übrig blieb, wußten die Galeriebesucher wahrhaftig nicht, wo sie hingehörten. Sie fühlten sich haltlos. Zwar hatten sie zu Beginn den guten Vorsatz gefaßt, jede Menge Eindrücke zu sammeln, die sie später mit nach Hause nehmen wollten, doch scheiterten sie schon an dem Punkt, als es darum ging, die erste Sperre abzuräumen. Nicht nur das Loch war versperrt, ebenso sperrte sich das ganze materielle Umfeld gegen ihren Blick.
Die Oberfläche ist seltsam.
Geschliffen.
Die Masse darunter löst sich auf.
Weil das Licht die Oberfläche auflöst.
Sie trägt keine Materie.
Dafür ist sie Träger des massenhaften Blicks.
Als die Galeriebesucher in der leeren Masse nicht die Wahrheit, die sie suchten, sondern lediglich ihren eigenen Blick gespiegelt fanden, packte sie der blanke Schrecken: War alles falsch, was sie sahen? Waren die Dinge hinten im Raum, die sie durch den Spalt hindurch erahnten, eine Riesentrompete, ein Reaktor, Gasometer oder glänzendes Pissoir (was es immer sein mochte), ein ausgebranntes Zelt oder Fossil (weiß Gott!), eine Wachstafel mit toten Bienen und Maschendraht, ein Kriegstreiberinnendenkmal (eine Katastrophe), nicht da? Beruhte alles auf Illusion?
Es bricht etwas in den Raum ein.
Der Raum hinter dem Raum.
Der unendliche, gekrümmte Raum.
Jetzt wird es zeitlos.
Nein, romantisch.
Gotisch.
Du sagst es.
Gezwungen durch ihre Neugier, und weil sie die Illusion hegten, irgendwann dort anzukommen, wo sie sich über ihre Illusionen keine Illusionen mehr machten, gaben die Passanten den Verlockungen des Raumes nach: Sie schlossen vor der ersten Daseinssperre die Augen, wichen ihr aus, indem sie die Passagen benützten, die ihnen die Kärntner Landesgalerie empfahl, und trieben sich fortan als blinde Passagiere herum. Unsicheren Schritts, zuweilen torkelnd wie in einem Raumschiff, steuerten sie auf die nächste Sperre zu. Hätten sie diese überwunden, sagte ihnen eine Ahnung, stellte sich ihnen eine nächste entgegenstellen, und wieder eine, es wäre ein einziger Abgrund, wo ihnen Böses geschah. Hätten sie aber die letzte Sperre erreicht, sagte ihnen die Hoffnung, wartete ein ewiges Leben auf sie. Das in sieben Milchstraßen flimmernd ausgegossene Weltall würde sie gnädig verschlingen.
Und wenn du glaubst, etwas gefunden zu haben, einen Standpunkt ...
Dann liegt es nicht an meiner Intelligenz?
An deinem Blick.
Am bösen Blick, den ich hier verpaßt kriege?
Deinem abwesenden Blick.
Das Aug, das arme Aug!
Schau zweimal!
Die zweite Daseinssperre war, bei oberflächlicher Betrachtung, größer als die erste. Mit einer Länge von 4,5 Metern, einer Breite von 63 Zentimetern und einer Höhe von 2,5 Metern verdrängte sie allerhand Raum, weshalb der Blick ihn nicht spontan umfaßte und festhielt. Dauernd rutschte er ab und glitt zurück zur ersten Sperre. War jene etwa errichtet worden, um ihn auf das Äußerste vorzubereiten? Funktionierte sie dann keineswegs als Wächter zu seinem Schutz, sondern als mickriger Herold, der gewaltigere Dinge, Staatsaktionen, Morde, Kriege ankündigte? Es sah so aus.
Ramme in der Mauer oder Mauer in der Ramme.
Egal.
In sich verknautscht und verkracht und jenseits von Gut und Böse.
Total.
Bist du taub?
Wie bitte?
Das Objekt führte den Passagieren ihre innere Unausgefülltheit vor Augen. Und da sie spürten, wie sich der Blick entleerte, hob in ihrem Schädel ein Brausen an, ein äußerstes Getöse wie seinerzeit in Jericho.
Was wiegt so eine Ramme in der Mauer oder Mauer in der Ramme?
Nicht viel.
Sie erinnert an ein schwer klingendes Lied.
Zum Zerlegen.
Ein paar Schrauben?
Schweißarbeit.
Bevor sie die Tragweite ihrer plötzlichen Eingebungen ermessen konnten, beschäftigten sich die blinden Galeriebesucher flüchtig mit den Mauern. Einige tasteten, einige rieben und kratzten, einige streichelten, aber kaum jemand wagte zu klopfen.
Glaswolle?
Abwesenheit von Glas.
Wolle von Ziegen?
Hohl.
In Wirklichkeit handelte es sich um rostfreien Stahl, den ein Friseur bis zur Unkenntlichkeit aufgedonnert hatte. In liebevoller Schleifarbeit hatte er den naturhaft nackten Silberglanz entschärft und durch eine Art künstliches Fell (Federbett, Strickjacke, Pullover) verdeckt. Ein behagliches Gekräusel aus feinen Eissplittern, flauschigen Meereswellen oder Daunen umhüllte nun die monoton in Reih und Glied stehenden, jeweils einfach, doppelt, dreifach und vierfach starken Mauern und nahm ihnen die böse Wirkung. Das heißt, sie leisteten nicht den geringsten Widerstand. Die Hand fuhr wie von einem Magneten angezogen darüber, spürte die Kälte und gab sich unversehens Mühe, daß sie die Körper wärmte.
Tut gut?
Man greift an.
Man verteidigt sich.
Angriff und Verteidigung sind dasselbe.
Tut beides gleich gut.
Ähnlich könnte es sich mit den Mauern und Trompeten in Jericho verhalten haben. Schon den Ägyptern ging der Lärm der Israeliten durch Mark und Bein, er durchschlug sogar die ehernen Armaturen der Kanaaniter. Entgegen der landläufigen Meinung fielen die Mauern aber nicht um. Vier von ihnen blieben aufrecht und fingen die Geschosse ab. Zwei unheimlich langgezogene, konisch gedehnte Kupferbolzen steckten heute noch im Mauerwerk.
Auch hohl?
Frage nicht, klopfe!
Aha, spannend.
Der Ausgang der Schlacht in Schwebe.
Wer gewinnt?
Zweifelnd, wer der Stärkere sei, die Mauern oder die Trompeten, legten die Passanten ein hochgradig auf- und abwieglerisches Benehmen an den Tag. Entweder paktierten sie mit den Trompeten und erschütterten die Mauern, oder sie hielten zu den Mauern und verschluckten die Trompeten. Dabei pendelten sie unentwegt zwischen den Extremen. Kümmerten sie sich um die Statik, verfielen sie bald dem Zwang zur Destruktion, und hauten sie alles kurz und klein, entpuppte sich der Trümmerhaufen als brauchbare Konstruktion.
Niemand gewinnt.
Wozu dann der Lärm?
Um die Schlacht zu übertönen.
Eine Pauke, eine Glocke?
Um nichts.
Ängstlich hielten die blinden Passagiere Ausschau nach dem Galeriewächter. Wurden sie beobachtet? Nein, er drückte beide Augen zu. Aber er spitzte die Ohren! Gehorsam zogen sie die zum Schlag erhobene Hand aus der Luft, verschränkten die Arme auf dem Bauch oder Rücken oder ließen sie wie nutzlose Klöppel links und rechts herunterhängen und gingen weiter.

3.

Als nächstes stand ein Labyrinth im Weg. Ohne daß man ihm übertriebene Aufmerksamkeit schenkte oder sofort den Einstieg probierte, behinderte es die gerade Flucht nach vorn und leitete den Publikumsfluß in ein Seitengemach, den Narc-Head-Room. Der Held Narkissos verträumte hier sein jahrtausendealtes Leben.
Was kommt da?
Ein Reaktor, er zeigt dir die Abwesenheit von allem in der Welt.
Von allem?
Von dir.
Ein plumpes, anderthalb Meter hohes Skelett (Winkelstahl) hielt vier halbkreisförmig gebogene Spiegel (Edelstahl) zusammen und richtete sie auf ein heimliches Zentrum. Unendlich tiefer Tiefsinn! Wer nicht mit dem Kinn über den Rand reichte, mußte, um den Tiefsinn zu erleben, eine Leiter (Räuberleiter) benützen, denn die vier Apsiden schlossen lückenlos aneinander an. Sie waren fest verschraubt und in den Fugen verklebt.
Hast du gewußt, wie sich das alles vervielfältigt?
Immer.
Wie bei einem Urwald, einem Kaufhaus, einem Bordell, einer geilen Straße des Handels, einer Kathedrale, angetan, die Begierde zu wecken, einer Feerie, einer Parfümerie, einem Modesalon, einem Babylon?
Das schon.
Und wie der Tiefsinn sich erweitert?
Weniger.
Wahnsinn!
Ursprünglich hätten die vier polierten Bleche flach im Raum gestanden, damit Narkissos locker hindurchmarschiert wäre. Ein gewöhnliches Spiegelkabinett erzeugt
aber nur stumpfe Reflexe. Der Ingenieur bog die Metalltafeln deshalb um 180 Grad und schuf einen Zentralkuppelbau ohne Kuppel und Fenster, 264 mal 264 Zentimeter, der die nahen Dinge phantastisch entrückte. Außerdem sollte ja Narkissos nicht locker durchmarschieren, sondern mächtig hereinfallen. Er sah den ganzen Kosmos und glaubte, er sähe sein Ebenbild.
Was siehst du?
Unendliche Schuhe, Socken, Hosenenden und Eisenträger, die sich kringeln und niemals verknoten.
Du übersiehst den Kern der Sache.
Mir genügt irgend ein Inhalt.
Der Kern der Sache ist die Auflösung des Inhalts. Einer früheren Idee zufolge hätte man eigentlich keinen Inhalt gesehen. Wenn der Raum sich zweckfrei nur selbst bespiegelte, meinte der Ingenieur, müßte er sich in Wohlgefallen auflösen. Zum Glück bot der Rahmen vorläufig einen Halt, das war der Inhalt. An seiner Schwäche erkannte man die Grenzen der Erkenntnis.
Was soll ich tun?
Hände hoch!
Und?
Wirf sie in den Pool!
Wunderbar.
Was hast du erkannt?
Einen aus Fingern und Hemdsärmeln geklöppelten Baldachin.
Du kennst dich nicht aus.
Etliche Passanten hatten versucht, das Geheimnis zu lüften, indem sie anfangs ihre Hände und Füße und mit zunehmender Begeisterung ihre Schuhe, Hosen, Kleider, Jacken, Krawatten, Broschen, Ringe, Ketten, Armbanduhren und Brieftaschen in den Narc-Head-Room warfen. Der hermetische Raum verschlang alles, was neu eingeworfen wurde, und brachte es in unendlicher Vielfalt zur Erscheinung. Es dauerte natürlich eine Weile, bis sie den Trick kapierten. Nachdem das Spektakel sie zu der Spekulation verführt hatte, daß sämtliche Dinge, die ihnen ans Herz gewachsen waren, im Kosmos wiederkehrten und, wenn das Opfer einmal vollzogen sei, enorm im Werte stiegen, kamen sie sich plötzlich fürchterlich abwesend vor. Der Galeriewächter kannte das schon. Er entfernte sie behutsam von der Außenwand des Apparats, wo sie im Zustand der Narkose klebten, und geleitete sie an die Schwelle des Labyrinths.

4.

Noch stark benommen, an der Schwelle verharrend, durchschauten die Passanten allmählich das System, dem sie ihren Wahnsinn verdankten. Sie hatten sich eingebildet, sie selbst zu sein, wenn sie ihre Fühler in den Kosmos ausstreckten, und schimpften jetzt drauflos: Ewige Wiederkehr des Gleichen, lächerlicher Erkenntnismüll! Hingegen rühmten sie das Labyrinth, obwohl es im Prinzip so gebaut war wie der Raum vorhin, wegen seiner besucherfreundlichen Architektur: Zugänglichkeit, Transparenz, klare Definition, das leuchtete ein. Man stand in der offenen Tür und sah sich nochmal, nochmal, nochmal, jedenfalls deutlich umrissen als ganzer Mensch in der offenen Tür. Und man sah sich in der offenen Tür begrenzt durch unbegrenzt viele andere offene Türen. Endlich trat man aus dem endlichen Bewußtsein in die grenzenlose Unendlichkeit.
Du kennst dich aus?
Alles klar.
Ist wer drinnen?
Womöglich Gott.
Wer weiß?
Sobald die Besucher in den Hohlraum blickten, war das, was drin war, draußen. Wenn sie, zum Beispiel, ihr liebgewordenes Ebenbild in Empfang nehmen wollten (heureka!), sahen sie nicht ihr einfach spiegelverkehrtes, sondern ein zweifach verkehrtes Spiegelbild, ein Spiegelspiegelbild. Dieses fremde, trotzdem objektive Bild, das jeder Affe draußen knipsen, entwickeln und kopieren konnte, flog nun mit Lichtgeschwindigkeit von drinnen auf sie zu.
Sitzt da ein Photograph?
Der große Andere?
Ein Schnellentwickler?
Automat.
Dreckschleuder.
Widerwillig stellten sich die vorschnell begeisterten Kunstinteressierten auf die Tatsache ein, daß ihnen der Übertritt in die Unendlichkeit nicht leicht gemacht wurde. Rührten sie den rechten Fuß und kniffen sich in die linke Wange, tat das Spiegelspiegelbild konsequent das gleiche, ohne sich ihren verkehrten Erwartungen anzupassen. Unendlich fad, starr, mitleidlos wies es die Illusion zurück und sperrte sie in die Hirnkästen ein. Die Menschen hatten keine Chance. Selbst wenn sie ihren Feind zu einem Duell Aug in Aug herausfordern wollten, fanden sie nicht die geeignete Perspektive. Um ihn zu treffen, mußten sie mit dem linken Aug auf das rechte und mit dem rechten auf das linke Aug zielen, das heißt, die zwei Schußlinien derart überkreuzen, daß ein absolut tödlicher Silberblick zustande käme. Einige Tapfere, die es ansatzweise versuchten, taten sich dabei sehr weh.
Du weißt, es ist wer drinnen.
Doch ein Pissoir.
Verhalte dich!
Ich habe kein Verhältnis.
Halt an dich.
Sei es, daß sie die Verhaltung nicht aushielten oder die Geschichte von Theseus gelesen hatten, ein mehrheitlicher Teil der Passanten stürzte kopflos über die Schwelle, um die Vernunft zu retten. Aber wie erschraken sie, als sie dem perversen, entmenschten Minotauros begegneten! Je näher sie ihm kamen, desto irrer ruckten und zuckten ihre Leiber. Sie wehrten sich mit Händen und Füßen. Doch mit jedem Verteidigungsschlag fetzten ihnen dieselben Hände und Füße dazwischen und zerstückelten sich gegenseitig.
Brutal.
Sie sponnen sich ganz in Ariadnes Fäden ein.
Fäden?
Der Faden war immer zerstückelt.
Wo soll die Geschichte enden?
Wo alles anfing, in der leeren Masse, sie ist eine Lust, eine Krankheit, beim vierten, fünften Mal siehst du aus wie Picasso, Bacon oder Giacometti, du singst, du fliegst, du vergißt dich.
Ja, Vater.
Von den Galeriebesuchern geht die Mär, daß sie sich unter lautem Gesang und mit flatternden Rockschößen ins Kabinett Nr. 5 begaben.
Der Engel war 8,56 Metern lang und maß 140 Zentimeter im Querschnitt. Konnte man da hinein? Es hätte der poetischen Absicht widersprochen, wenn jemand die Form betrat, niemand durfte sie verletzen. Sie war dort einfach hingeworfen und liegengelassen worden, eine Form mit innerer Logik und Statik, ohne dienende Funktion und folglich verletzlich genug.
Ich will aber.
Ikaros!
Daidalos!
Neben anderen Gerätschaften und Apparaten, deren möglicher Verwendungszweck ihm erst nach und nach klarer wurde, hatte der Poet auch diesen Engel hergestellt. Ein Tempel oder eine Kirche (wie sich das neuerdings nannte) meldete beim ersten Augenschein ihr lebhaftes Interesse an, versprach guten Lohn unter der Bedingung, daß sich dies und jenes änderte, und, als sich nichts tat, dann eben nicht. So überdauerte die Form in Sonne, Wind, Regen und Schnee, nahm zu in dem Maße, wie sie sich an den Blicken der Umwelt sättigte, und nahm ab, wie sie sich von ihnen auszehren ließ.
Hast du das Ding so gewollt?
Damit es einmal da ist.
Es muß erst geboren werden.
Damit du weißt, was es ist.
Tot oder lebendig.
Oder ein Monster.
Inmitten der sieben Rippen hing das Rückgrat, dessen kupferne Machart an die Tröten der zweiten Daseinssperre erinnerte. Als Tröte war das Rückgrat aber nicht zu gebrauchen. Die beiden Enden links und rechts schienen sich zu öffnen, um den Äther mit Himmelsklängen zu erfüllen, doch waren sie in Wirklichkeit verstopft. Und hineinblasen konnte man auch nicht, weil das Ansatzrohr fehlte. Wenn der Engel also Musik in sich hatte, liefen die Töne kreuz und quer durchs überirdische Mark seines Rückgrats, ohne durchs Bein gehen zu dürfen. Sicher war es ihnen verboten, einfach abzuzischen und loszuzittern wie ein Gassenhauer und Popschlager oder irgend eine andere elektronische Musik.
Armer, abgedankter Engel.
Ja, ja, und dann ist dieses Aufatmen und Staunen, wie gut es funktioniert, eigentlich.
Der Engel spielt eigentlich mit sich selbst.
Eigentlich hat man mit weniger gerechnet.
Gibt es etwas Schöneres, als daß sich ein Objekt zum Subjekt macht, die Kunst sich selbst vollendet?
Nichts Schöneres.
Heckflügel aus hochpoliertem Edelstahl.
Von der Konstruktion her hätte die Flugvorrichtung am Heck ein Wellblechdach sein können, man hörte beinah den Regen plätschern. Weil sie aber aus feinem Hause stammte, erweckte sie den Eindruck, selbst zu tropfen.
Wie der Rückenschild eines Mistkäfers.
Berndorfer Ausschußware.
Hochwertige Armierung.
Günstig.
Jede Tradition, jede Idee, tiefsinnig oder schwachsinnig, geht darin ein, es verdaut alles.
Vater, ich bin der Herr der Welt!
Ikaros, du schon wieder?
Ich will mich in schwindlige Höhen erheben.
Du bleibst hier!
Bin schon weg.
Dann leide!
Gott, was sind das Probleme! Die Passanten beobachteten, wie Ikaros in den Engel stieg und Daidalos wütend hinterher schimpfte, den üblichen Vater-Sohn- Konflikt.

6.

Das Paradies war in Urzeiten verloren. Deshalb war man besonders neugierig darauf, den Verlust abzuschätzen, ihn endlich zu wägen, zu sehen, zu hören und zu schmecken: Paradise Lost, 206 Zentimeter hoch, 260 breit, 5 tief.
Du machst eine Konstruktion.
Und wirst überrascht.
Durch Poesie, hier ist die Stelle.
Ein Triptychon.
Zum Auf- und Zuklappen?
Zu schwer.
Die Platte links, hochpolierter Edelstahl auf Holz im Stahlrahmen, spiegelte vor sich hin. Man konnte ihr einen Ausdruck verleihen, indem man sich als Person darin betrachtete, den Sitz der Gesichtszüge und Garderobe korrigierte, an den Haaren fummelte und überhaupt den Eindruck, den man machte, verbesserte. Aber das half dem Kunstwerk nicht aus seiner Verlegenheit. Ihm war anzusehen, daß es auch nicht wußte, welchen Sinn Arbeit haben sollte. Arbeit geschah, damit die Menschen ihren Platz in der Welt fänden, mehr oder weniger. Ansonsten ließ sie sich mit gar keiner Theorie verbinden, darum spiegelte der linke Flügel so matt.
Es trifft sich etwas.
In der Erinnerung.
Im Vergessen.
Der rechte Flügel, offenbar das Pendant zum linken, fügte dem schwachen Ausdruck und dem blassen Gedanken die nötige Ergänzung zu. Eine Ergänzung ist nötig, sofern sie das Bestehende umkehrt und an ihm etwas aufdeckt, was die Bildoberfläche nicht zeigt, die Rückseite einer Wahrheit. Dergleichen kam hier zum Vorschein, Graphitstaub, gemischt mit Leinöl, Kreide und einer Art von Hasenleim, verrammelt und verspannt durch Maschendraht, wie man ihn für Taubenschläge und ähnliche Gefängnisse braucht. Es beantwortete nicht die Frage, welchen Sinn Arbeit hätte, doch erklärte es zumindest einige Umstände. Der Schweiß, der Schmutz, das Fluchen und Ächzen, die Liebesmüh, das war im linken Spiegel längst abgesoffen.
Hier ist die Stelle, wo sich etwas trifft.
In der Mitte.
Die Mitte ist nie feststellbar.
Offen, völlig offen.
Kippt unentwegt.
Sonntagsstaat und Arbeiterstaat, die Feiertage und Werktage trafen sich in der breiten Mitte. Die Platte enthielt eine Menge Bienenwachs, armiert durch denselben Maschendraht wie rechts. Die Analogie zum Bienenwabenmuster mochte sich während der Ausführung zufällig ergeben haben, dennoch lag ihr ein identischer Satz zugrunde: Göttern, Menschen, Tieren geht es dreckig. Die Bienen, zum Beispiel, produzieren und konstruieren, was das Zeug hält, und man kann ihnen gewiß nicht Ränkespiele, Faulheiten oder Murksereien vorwerfen. Und was ist das Ergebnis? Vanitas! Von einem befreundeten Imker hatte sich der Künstler ein paar Kübel Müll und Produktionsreste aus einem Stock besorgt, um sie gleichmäßig auf seine Platte zu verteilen. Die Platte wurde brüchig und hätte sich ohne Armierung sofort aufgelöst, denn der Saft, gesundes Propolis, rann aus den Ritzen, und tote Bienen krochen aus dem Matsch.
Ein Sauhaufen, wenn man bedenkt.
Bedenke, was in dem Sauhaufen geleistet wurde.
Erhabenste Poesie.
Das Handwerkliche trifft sich in der Mitte.
Die Passagiere bewunderten die Blutstropfen und Tränen, die aus dem Heiligenbild quollen (jetzt weinte die Madonna wieder), und bereiteten sich vor aufs letzte Gefecht.

7.

Die Nike von Saager, 275 mal 142 mal 125 Zentimeter, stand störrisch im Hintergrund. Ihre einzige Ausrede war, daß sie eine museale Statur besaß. Zwei rechte Winkel aus 12 Millimeter starkem Blech, groß wie Galgen, bildeten zueinander nochmals einen rechten Winkel, so daß ein Doppelgalgen herausschaute. Zwecks Verstärkung des ohnehin trotzigen Ungetüms, waren ihm zwei weitere, dürrere Winkel, 10 Millimeter stark, seitlich angeschraubt worden, was die spitzige Hieratik der Flanken erhöhte und der Basis eine solide Breitbeinigkeit verschaffte. Die Göttin hatte zwar nie unmittelbar ins Schlachtengetümmel eingegriffen, aber sie hatte ihre Herren Generäle stets gut beraten, wegen der drei Füße. Auf das Orakel war einmal Verlaß.
Ein schönes Ergebnis.
Der Sieg?
Die Niederlage.
Als die blinden Passagiere an die letzte Wand stießen, fanden sie, daß sie ihnen von der Nike verstellt wurde. Was hätte dahinter noch sein sollen? Jedes Ding, das sie bisher gesehen hatten, verstellte ihnen einen Ausschnitt der ihnen bekannten Welt, und sie konnten bei ihrem Fortschritt durch die Räumlichkeiten der Kärntner Landesgalerie darauf vertrauen, daß ihnen ein nächster kaputter Ausschnitt bevorstand. (Die Welt wurde nicht besser.) Gleichgültig, wie geschwind sie nun vorgingen, an jedem Ding erkannten sie, wie sich der Raum entleerte, statt sich zu füllen, und darin lag zweifellos Methode. Während sich die Objekte ihrem Genuß, ihrem ganzen Sinnen und Trachten unterwarfen, wurden sie immer leerer und mit ihnen natürlich die Umgebung. Zugleich weckten sie die Lust, steigerten die Neugier aufs nächste Objekt, das, unschuldig und unverbraucht, im Nebenraum wartete. So ging das, ähnlich wie bei kommunizierenden Gefäßen, von der Entleerung zum Stau zur Entleerung zum Stau usw. ? Aber hier ist Schluß! Dies ist die Wand der Welt, die nichts mehr unterteilt, nichts vergrößert, nichts mindert! Sie ist die Grenze, die euch vor dem reinen Nichts bewahrt, dem Abgrund!
Kommt jetzt das Nichts?
Es kommt.
Wenn nichts mehr kommt, hat es sich schon gelohnt.
Die Nike kippte leicht nach vorn. Sie gab ein Zeichen: Nec plus ultra!
Triumphierend schickten sich die Galeriebesucher in ihre Niederlage, die Flucht zurück.






 
 
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